Deutschland: Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Mensch
Durch Bewegung und Phantasie wieder Sicherheit erleben
"Mir geht’s gut, weil mein Zahn bald ausfällt." Hannes (9) macht in der "Wie-geht’s-mir-Runde" beim Kinderyoga in Bitburg einen zufriedenen Eindruck. Zusammen mit seiner Plüsch-Schildkröte und den anderen Kindern sitzt er in einem Kreis, mittendrin sitzt Andrea Drüen, Yogalehrerin und Diplom-Sozialarbeiterin.
In der Gegend um Bitburg zerstörte die Flut im Juli 2021 die Existenz vieler Familien in einer einzigen Nacht. Der Yogakurs von Andrea Drüen, welcher von der Caritas-Fluthilfe ins Leben gerufen wurde, richtet sich an Kinder im Alter von sechs bis zehn Jahren, die infolge eines schlimmen Ereignisses aus dem Gleichgewicht geraten sind. Aber wie merkt man, dass ein Kind traumatisiert sein könnte?
Die Kinder werden aufgefordert, sich einen Platz zum entspannen zu suchen. Hannes baut sich und seiner Schildkröte unter dem Stuhl eine kleine Höhle.Foto: Marijn Fidder / Caritas international
Oft können Kinder ihre Gefühle nicht benennen
"Die Reaktionen können ganz unterschiedlich ausfallen", erklärt die Kursleiterin Andrea Drüen. "Mal sind es Wut und Aggression, oft können die Kinder die Gefühle gar nicht benennen. Andere Kinder erleben Abspaltungen - sie fühlen sich, als wären sie jemand anderes. Wieder andere leiden unter Panikattacken oder verfallen in Schweigen." Oft stelle man den Trauma-Zusammenhang erst viel später her, manchmal erst im Erwachsenenalter. "Yoga kann zum einen vorsorgen, dass das Trauma später wieder hochkommt und beispielsweise eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht oder andere psychische Probleme aufkommen. Zum anderen gibt es den Kindern das Wissen an die Hand: Ich kenne etwas, das mir Sicherheit gibt". Beim traumapädagogischen Yogaunterricht verbindet Andrea Drüen ihren sozialpädagogischen Hintergrund mit ihrer Leidenschaft: Yoga. Nach diversen Fortbildungen leitet sie heute traumapädagogische Yogakurse, die betroffenen Kindern helfen können.
Die Flutnacht
Hannes (9) und Oskar (6) sind Brüder, sie nehmen beide am Yogakurs teil. Ihr Vater erinnert sich in allen Einzelheiten an die Flutnacht, die so harmlos begann. "Es hat ja nur geregnet", sagt Uwe Rolfes* (41). Die Familie wohnt direkt am Bach, die Eltern sind bei der freiwilligen Feuerwehr. Am Nachmittag gab es die erste Sirene. "Ich habe meiner Frau gesagt: Du kannst ruhig fahren", erinnert sich Uwe Rolfes. Seine Frau war von da an im Einsatz. Uwe Rolfes blieb mit den drei Söhnen Hannes (9), Oskar (6) und Anton (5) zuhause. Die Kinder waren besorgt, sprachen über das viele Wasser, als Uwe Rolfes sie ins Bett brachte. "Ich habe sie vor dem Einschlafen beruhigt, habe ihnen gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen müssen", sagt Uwe Rolfes. Er selbst ging nicht schlafen. Als seine Frau um 06:30 Uhr nach Hause kam, stand das gesamte Erdgeschoss unter Wasser.
Hannes, Uwe und Oscar Rolfes. „Ich merke, dass das Yoga den Kindern guttut“, sagt Papa Uwe Rolfes.Foto: Marijn Fidder / Caritas international
"Meine Frau hat den Kindern nach dem Aufwachen gesagt: Es ist etwas schlimmes passiert. Hannes‘ Augen wurden ganz groß, da sah man sofort die Angst", erinnert sich Uwe Rolfes. Oskar (6) reagierte erstmal anders: "Cool, so ein großer Pool!", rief er beim Blick aus dem Fenster. Die Schlafzimmer liegen im ersten Stock - hier war nichts passiert. Aber der Ausblick aus dem Fenster zeigte nur Wasser.
Nach der Flut war alles anders
Es dauerte nicht lange, bis alle drei Kinder die Dramatik der Situation zu spüren bekamen. Der Wohnraum der Familie war zerstört, und auch die "heile" Welt der Kinder bekam deutliche Risse. Das Wasser der Flut ging recht schnell wieder zurück. Aber der richtige Pool - zwei Wochen zuvor war er neu errichtet worden - war weg, ebenso das Trampolin und die Spielfahrzeuge. Hannes‘ Geburtstag war wenige Tage nach der Flut - aber wo hätte man ihn feiern sollen?
Andrea Drüen, Yogalehrerin und Traumapädagogin: "Mit manchen Übungen kann man Kindern sehr einfach helfen".Foto: Marijn Fidder / Caritas international
"Oskar und Anton haben das eigentlich ganz gut weggesteckt", sagt Uwe Rolfes. Bei Hannes saß der Schreck tiefer - bis heute. "Er hatte Angst, dass das wieder passiert und wirkte abwesend und bedrückt. In der Schule ließ seine Konzentration nach. Dann kam die Angst vor Dieben dazu". Im Untergeschoss hatte das Wasser die Außentür fortgerissen. Hannes befürchtete, dass so nachts Diebe ins Haus kommen könnten. Die Eltern suchten professionelle Hilfe, außerdem kam eine "Räuberfalle" zum Einsatz: Aus alten Blechdosen und einer Schnur wurde eine Falle gebaut, die fortan nachts vor dem Kinderzimmer stand. Wenn Räuber kämen, dann würden die Blechdosen Lärm machen - in dem Wissen konnte Hannes beruhigt schlafen.
Der Yogakurs ist ein anderer Weg, die Angst kennenzulernen - und sich zu beruhigen. "Die Kinder lernen, sich wieder zu spüren und ihre Angst zu verstehen. Sie lernen, dass sie auf sich achten können. Dass sie Methoden beherrschen, die sie an einen sicheren Ort bringen - zum Beispiel die Phantasiereise", so Andrea Drüen. "Yoga kann mit den Methoden Körper, Bewegung und Phantasie viel erreichen".
Die Wirkung von Yoga
Gespannt hört der sechsjährige Oskar zu, welches Tier ihm Andrea Drüen als nächstes ins Ohr flüstert. Seine Aufgabe ist es dann, dass Tier als "Yogafigur" darzustellen.Foto: Marijn Fidder / Caritas international
Durch altersgerechtes Yoga werden die Kinder ruhiger. Manchen gelingt es nicht, in der Ruhephase sofort runterzukommen. "Zum Beispiel bauen sie eine Burg mit der Matte um sich herum, um sich in der Stillephase zu schützen", erzählt Andrea Drüen. Manche sprechen, andere toben sich erst nochmal aus. Auch beim Yoga findet jedes Kind seinen eigenen Weg - aber helfen kann es den meisten. "Ich merke, dass es den Kindern guttut", sagt Uwe Rolfes. Oskar möchte zuhause gleich weitermachen, um seinem jüngeren Bruder Anton die neuen Übungen zu zeigen - er ist noch zu klein für den Kurs. Und Hannes findet vielleicht endlich wieder Zeit, sich um die wirklich wichtigen Dinge im Leben eines Neunjährigen zu kümmern: zum Beispiel seinen Wackelzahn.
Eine Reportage von Elisa Schinke, April 2022
*Name geändert