"Die Menschen nehmen enorme Gefahren in Kauf"
Was sind die Beweggründe der Migranten, sich auf den Weg zu machen?
Die Personen, die wir in dem Migrationszentrum in Gao empfangen, sind aus sehr unterschiedlichen Gründen aufgebrochen. Da wäre der Klimawandel zu nennen, zudem gibt es kulturelle und zahlreiche politische Gründe. Was wir in Mali und in den westafrikanischen Ländern nicht nachvollziehen können und nicht wollen: Europäischen Staatsoberhäupter unterzeichnen mit den hiesigen politischen Verantwortlichen Verträge, zum Beispiel in der Bergbauwirtschaft, zum Export von Mineralien. Und das, obwohl sie wissen, dass die Bevölkerung von diesen Verträgen in keiner Weise profitieren kann. Es sind höchstens die afrikanischen Staatsoberhäupter, die davon profitieren - sowie deren unmittelbare Vertraute. Die Lebensrealität der Anwohner*innen in den Bergbauregionen wird hingegen immer schwieriger. Wenn man dieser offensichtlichen Realität ins Auge sieht, dann kann man leicht erraten, warum die Menschen ihre Heimat verlassen.
Eric Alain Kamdem, Koordinator des Migrationszentrums in Gao (Mali), bei einem Austauschbesuch in Freiburg bei Caritas international im September 2019. Foto: Martina Backes / Caritas international
Was sind die größten Gefahren für die Migranten auf ihrem Weg durch den Sahel?
Die Menschen nehmen enorme Gefahren und Risiken in Kauf. Eine der größten Gefahren derzeit ist die Entführung von Personen zum Zwecke der Lösegelderpressung. Es werden immense Summen von Lösegeld von den Familien der Migranten und Migrantinnen erpresst, obwohl die Angehörigen selber meist sehr arm sind. Zu den Entführern zählen ganz verschiedene Gruppen: bewaffnete Gangs, Islamisten, Rebellen. Alle möglichen Gruppierungen, die Geld brauchen, um zu existieren, die von kriegerischen Ökonomien abhängen und Geld erpressen, um Waffen zu kaufen. Oder schlicht Jugendgangs, die keine anderen Möglichkeiten des Gelderwerbs in der Region finden. Besonders schlimm sind Entführungen von Frauen, denn sie werden oftmals sexuell missbraucht.
In unserem Zentrum in Gao kommen Frauen an, die auf diesem Wege schwanger geworden sind und den Vater ihres Kindes nicht kennen. Sie sind oft traumatisiert. Wer diesen Migrantinnen und Migranten begegnet, müsste den Hut vor ihnen ziehen; für mich sind das Heldinnen in Anbetracht all dieser Hindernisse und Härten, die sie bei der Durchquerung der Sahara und der Überfahrt über das Mittelmeer erfahren.
Ein weiteres großes Risiko ist der Frauenhandel. Oft erhalten Frauen per Mobilfunk einen Hinweis, dass sie in Europa eine Stelle als Haushälterin annehmen können, mit Details zum Job und den Kindern, die sie hüten sollen. Mit diesen Informationen brechen sie auf, ihre Familien zahlen die Reise. Auf dem Weg in den Norden werden sie gezielt abgefangen und in verriegelten Häusern festgehalten, in illegalen Gefängnissen, einer ersten Station eines verzweigten Frauenhandels. Von hier aus wird ihre Weiterreise organisiert, der Menschenhandel greift hier in das Migrationsgeschehen ein und profitiert davon. Diese Frauen leiden besonders, sie können sich aus eigener Kraft meist nicht mehr befreien.
Gao ist eine Kreuzung der zahlreichen Migrationsrouten vom westlichen ins nördliche Afrika. Warum und was genau bedeutet das auch für die Bevölkerung in Gao selber, die diese vielen Migranten irgendwie beherbergt?
Gao ist und bleibt eine wichtige Kreuzung auf dem Weg Richtung Norden, ebenso wie die Oasenstadt Agadez im Norden des Niger. Zuvor war Gao ein Ort von touristischem Interesse, doch der Tourismus hat schweren Schaden genommen. Viele jungen Leute, die aus Westafrika hier ankommen, laufen den bewaffneten Gruppen direkt in die offenen Arme.
Weite Teile von der Küste bis in den Tschad werden von fundamentalistischen Gruppen kontrolliert. Diese Gruppen haben einen hohen Rekrutierungsbedarf für ihren sogenannten Glaubenskrieg. Die jungen, abgeschobenen und herumirrenden Migranten sind für sie eine leichte Beute. Einer der größten Gefahren, die von der europäischen Migrationskontrolle und Grenzschließung ausgeht, ist daher die Radikalisierung. Diese sehr verwundbaren Migranten sind zu allem bereit, um ihr Leben zu retten. Sie sehen keinerlei Zukunft mehr, denn sie sind doppelt Ausgeschlossene: Einerseits ausgestoßen aus der Gesellschaft, in die sie sich integrieren wollten, andererseits auch aus ihrer Herkunftsgesellschaft.
Das stört scheinbar niemanden in Europa. Man sagt, dass die Europäer die Kontrolle des Mittelmeeres dafür nutzen, um die Migration auch in der Sahara einzudämmen. Aber so funktioniert das nicht. Die allermeisten Migranten sind doch Migranten auf Zeit. Sie suchen nach einer Möglichkeit, nach Europa zu gehen, zu arbeiten und dann in ihre Heimat zurückzukehren. Gäbe es diese Möglichkeit, würde kaum jemand in Europa bleiben.
Wie arbeitet das Migrationszentrum und was sind konkret die Herausforderungen in dieser aufgeheizten Stimmung?
Die Arbeit, die wir hier betreiben, ist sehr gefährlich. Derzeit sensibilisieren wir die malische Bevölkerung, damit die Migranten nicht von ihnen abgelehnt werden, sondern Unterstützung erhalten. Denn eigentlich ist die malische Kultur keine, die Ablehnung und Ausschluss kennt.
Mali ist ein sehr offenes Land, wenn du nach Mali kommst und niemanden störst, wird dich in Mali auch niemand belästigen, so jedenfalls ist die Tradition. Das hat zur Folge, dass gut 80 Prozent aller Migranten und Migrantinnen, die es nicht bis Europa schaffen und zurückgeschoben werden, nach Mali wollen. Denn hier gibt es Möglichkeiten der Integration. Wir beraten die Migranten in Bezug auf die notwendigen Dokumente, zum Beispiel, wie man Papiere auf dem Bürgermeisteramt erwerben kann, um einen Platz zum Wohnen zu finden und auch einen Job, etwa bei einer Reifenflickstation oder als Verkäufer von Ziegen. Jedes Land hat seine eigenen Gesetze, wir beraten die Migranten, damit sie informiert sind, bevor sie ihre Entscheidung treffen.
Es gibt immer mehr Migranten, die in Gao im Gefängnis landen, das ist doch ein Widerspruch zur gerade beschriebenen Kultur der Gastfreundschaft …
Ja, das stimmt. Immer häufiger werden Personen nachts festgenommen, weil sie keinen Wohnsitz nachweisen können. Es gibt diesen Passus im Strafgesetzbuch, wonach man einen Wohnort für die Nacht vorweisen muss. Tatsächlich wird dieses Gesetz vor allem in Gao immer häufiger angewandt. Wer keine feste Adresse angeben kann, kommt in eine Zelle - zusammen mit Schwerverbrechern und Leuten, die wegen Waffenhandel oder Überfällen dort einsitzen. Das ist eine große Gefahr für alle. Das Gesetz existiert zwar in ganz Mali, wird aber nur in Gao angewandt. Ich nehme wahr, dass auch über die Europäische Union zunehmend Druck auf Mali und vor allem auf die offiziellen Stellen in Gao ausgeübt wird. Das ist eine Form der Verschiebung der Grenze.
Die Strafe kann zwischen sechs Monaten und fünf Jahren betragen. Das Problem ist, dass mit den Gefängnisstrafen ein ganz anderes Bild über die Migranten geschaffen wird, als es bisher in Mali üblich war. Insofern trägt diese Praxis zur Spaltung der Gesellschaft bei.
Inwiefern ist das Migrationszentrum in Gao auch an Rückkehrprogrammen beteiligt?
Derzeit ist das Zentrum das einzige in Mali, das Migranten bei der Mobilität unterstützt. Wer bei uns ankommt, kann zehn Tage bleiben, erhält Unterkunft und vor allem Informationen. Dann muss sich diese Person entscheiden, ob sie weiterziehen will, in Gao bleiben oder zurückkehren möchte. Wir kümmern uns bei Rückkehrwünschen um die Reiseroute und ein sicheres Verkehrsmittel, und wir zahlen ein wenig Geld für Essen und für die Kommunikation, damit die Person die Familie informieren kann, wo sie sich befindet. Viele haben seit Monaten nicht mehr mit ihrer Familie kommuniziert.
Gibt es eine Art Warnsystem oder Informationssystem, das die Migranten über gefährliche Passagen, erhöhte Überfälle und ähnliche Risiken warnt?
Wir sensibilisieren vor allem die Migranten, die in unserem Zentrum ankommen. Viele Schleuser dirigieren die Migranten direkt in die Arme der bewaffneten Gruppen oder der Lösegelderpresser. Zudem benutzen wir drei lokale Radiostationen, hier werden Sendungen in Französisch, in Bambara und weiteren lokalen Sprachen ausgestrahlt. Die Migranten hören diese Sendungen, ebenso wie die lokale Bevölkerung.
Ein weiteres Element ist ein offenes Treffen, ein Gesprächskreis im Zentrum: Hier tauschen sich die Leute über das aus, was sie bisher erlebt haben. Auch die Probleme einer Rückkehr werden hier angesprochen. Das sind die Möglichkeiten, die wir derzeit für eine Sensibilisierung nutzen.
Interview: Martina Backes