Humanitäre Hilfe auf dem Prüfstand
Menschen in Not solidarisch und professionell zu helfen sehen wir als unseren Auftrag. Zunehmend aber wird die Humanitäre Hilfe kritisch beäugt. Und das ist gut so. Denn es gibt viele Fallstricke, Widersprüchlichkeiten und Gratwanderungen mit denen Hilfsorganisationen in ihrer Arbeit konfrontiert sind. Caritas international stellt sich mit kontinuierlicher Analyse und Prüfung ihrer Arbeit den Lektionen, die zu lernen sind.
"Lernen aus Fehlern und Leben mit Widersprüchen gehört zu jeder zukunftsweisenden Projektarbeit." Caritas-Kollegin im Senegal
Vor dreißig Jahren herrschte in Äthiopien eine der größten Hungersnöte in der Geschichte Afrikas. Acht Millionen Menschen waren betroffen, mindestens eine halbe Million Menschen verloren ihr Leben. Bilder von Verhungernden gingen um die Welt und lösten eine überwältigende internationale Hilfsbereitschaft aus.
Nahrungsmittelverteilung in ÄthiopienDavid Snyder/CRS
Aber die betroffenen Regionen waren umkämpftes Gebiet in einem jahrzehntealten Bürgerkrieg. Das Regime ließ nicht zu, dass Hungernde im von Aufständischen kontrollierten Norden Hilfe erhielten. Im Gegenteil. Regierungstruppen bombardierten gezielt Märkte und Zugangsstraßen, um die Hungersnot zu vergrößern.
Damit zwangen sie Menschen zur Abwanderung in die Regierungsgebiete und schwächten so den Rückhalt für die Widerstandsbewegungen. So kam es zu der paradoxen Situation, dass rund 90 Prozent der Nahrungsmittel im Regierungsgebiet verteilt wurden, obwohl dort nur ein Fünftel der Bedürftigen lebte.
Hilfsorganisationen wie das große kirchliche Netzwerk Emergency Relief Desk entschieden sich, andere Wege zu gehen. Sie begannen, grenzüberschreitend Hilfe zu den Hungernden in die am schwersten von der Hungersnot betroffenen Regionen zu transportieren. Sie wurden damals von Geberorganisationen massiv dafür kritisiert, staatliche Souveränität zu unterlaufen. Wer hingegen im Regierungsgebiet arbeitete, stand vor dem Dilemma, entweder den Missbrauch der Hilfe zu verschweigen oder des Landes verwiesen zu werden.
Leichter gesagt als getan: Neutralität in der Humanitären Hilfe
Eine Million Tote in hundert Tagen: Zwanzig Jahre ist es her, dass aufgewiegelte Hutu Milizen und Zivilisten in Ruanda einen grauenhaften Völkermord verübten. Als Kämpfer der Tutsi den Genozid militärisch stoppten und die Macht in Ruanda übernahmen, flohen fast zwei Millionen Menschen aus Angst vor Racheakten in die Nachbarländer.
Flüchtlinge nach dem Genozid in RuandaCaritas international
Mit ihnen zogen viele der Täter in die Flüchtlingslager im benachbarten Ost-Kongo, lebten von humanitärer Hilfe und verübten von dort aus erneut Angriffe in Ruanda. Hilfsorganisationen leisteten Hilfe für die Flüchtlinge in den übervollen Flüchtlingscamps, ein "Aussortieren" der Schuldigen des Genozids wäre ihnen völlig unmöglich gewesen. Wer aufgrund der Lage die Hilfe abbrach, traf damit auch die übrige Flüchtlingsbevölkerung.
Angesichts der traumatisierenden Dilemmata, vor denen humanitäre Helfer in solchen und anderen Gewaltkonflikten stehen, entstand unter engagierten Hilfsorganisationen wie Caritas international das Bemühen, Grundsätze und Standards humanitärer Hilfe zu formulieren, um das eigene Handeln kritisch reflektieren zu können. 1994 wurde der Verhaltenskodex der Rotkreuz-Bewegung und Nichtregierungsorganisationen verabschiedet, kurz danach folgten die Sphere -Standards. Beide sind bis heute zentrale Qualitätsstandards der humanitären Hilfe.
Der Verhaltenskodex umfasst zehn Selbstverpflichtungen, denen sich die unterzeichnenden Organisationen unterwerfen. Ein Beispiel ist das Gebot, Hilfe rein nach Bedürftigkeit und ohne Ansehen der ethnischen Zugehörigkeit, des Glaubens oder der Nationalität zu vergeben.
Ein anderes Gebot verpflichtet die Unterzeichner, die Kultur der von Kriegen oder Katastrophen Betroffenen zu respektieren. Sie müssen in die Umsetzung der Hilfe einbezogen werden, und Hilfsorganisationen müssen ihnen gegenüber ebenso Rechenschaft ablegen, wie gegenüber Spendern und Geldgebern. Und schließlich setzt der Kodex bereits Mitte der neunziger Jahre den Standard, nicht nur akute Hilfe zu leisten, sondern auch dafür zu sorgen, künftige Katastrophenanfälligkeit zu vermindern.
Wenn Hilfe neue Abhängigkeiten schafft
Im heute unabhängigen Süd-Sudan herrschte über 30 Jahre Krieg. Die Gesundheitsversorgung war zusammengebrochen. Junge Frauen, die viel zu jung Mütter wurden starben sehr häufig auf Grund von Komplikationen bei der Geburt. Malaria war verbreitet und führte viel zu oft zu eigentlich vermeidbaren Todesfällen.
Mehrere deutsche Organisationen schlossen sich zusammen und bauten in einer Teilregion ein funktionierendes und aufeinander abgestimmtes Gesundheitswesen buchstäblich aus Ruinen wieder auf. Als sie Ende der neunziger Jahre damit begannen, mussten sie mit ausländischen Kräften arbeiten. Es gab fast keine süd-sudanesischen Ärzte oder Pfleger, denn das Bildungssystem war ebenfalls zerstört und Einheimische mussten zunächst als Pflegehelfer angelernt werden.
Gesundheitsversorgung im SudanCaritas international
Heute arbeitet dort gut ausgebildetes süd-sudanesisches Personal, voller Stolz auf das Erlernte und die Möglichkeit, ihr Können zum Wohl der Mitbevölkerung einzusetzen. Viele Mütter und Kinder überleben heute medizinische Komplikationen, an denen sie noch Ende der neunziger Jahre gestorben wären. Die Finanzierung der Gesundheitsprojekte muss aber noch über Jahrzehnte von außen gefördert werden. Der Staat ist jung, das Land ist bitterarm, neue Konflikte erschweren die Entwicklung.
War das Programm ein Misserfolg, weil es noch nicht nachhaltig ist? Eine recht bequeme Ansicht, wenn man sie in einem rechtsstaatlichen Land mit funktionierender Gesundheitsversorgung äußert.
In Afghanistan oder im Sahel helfen die Projekte von Caritas international seit Jahrzehnten jungen Menschen, eine Perspektive in ihrem Land zu erhalten, anstatt in die Städte oder im Falle des Sahel in Küstenländer abzuwandern. Die meisten von ihnen sind nicht wohlhabend geworden, aber ohne die Projekte hätten sie zu Hause keine Chance gehabt.
Fachleute der Wirkungsbeobachtung nennen das "kontrafaktisch". Ein Projekt kann sein Ziel erreicht haben, wenn es Schlimmeres verhindert hat. "Wir konnten dank der Hilfe zumindest ein Auge öffnen" antworteten ehemals zwangsrekrutierte, dann demobilisierte Ex-Soldaten in Äthiopien, die dank eines Arbeitsbeschaffungsprogramms ihre Familie über Wasser halten konnten.
Der lange Atem: Wirkungsvolle Hilfe braucht Zeit
Haiti, eine der großen vergessenen Katastrophen und das ärmste Land der westlichen Hemisphäre stand nach dem Erdbeben 2010 für kurze Zeit im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Noch bevor haitianische Kolleginnen und Kollegen Tage nach dem Erdbeben, in dem sie selbst oftmals alles verloren hatten, ihre eigenen Angehörigen wieder einigermaßen sicher unterbringen und eine seriöse Planung der Nothilfe beginnen konnten, sprachen internationale Medien schon von "zu wenig Hilfe, zu spät."
Haiti: Skulptur zur Hilfe aus aller Welt Leonie Hannappel / Caritas international
Jahre später, nachdem die allermeisten Hilfsorganisationen längst weitergezogen und die Not in Haiti in Vergessenheit gerät, arbeiten lokale Kollegen weiter beharrlich an einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Allerärmsten, um regelmäßig zum Jahrestag der Katastrophe zu hören, dass die "ganze Hilfe nichts genützt" habe, weil das Land so arm ist wie zuvor. Was denn auch sonst, wenn die internationale Hilfe kaum reichte, die entstandenen Schäden zu beheben, und das öffentliche Interesse jetzt längst woanders hin gezoomt hat? Caritas international hat zusammen mit der Diakonie Katastrophenhilfe ein Konzept zur Wirkungsorientierung entwickelt, um entgegen solcher kurzfristiger Konjunkturen seriös einzuschätzen, inwieweit wir selbstgesetzte Qualitätsstandards konkret einhalten, welche Wirkungen unsere Hilfe über die Jahre, z.T. Jahrzehnte der Projektförderung erreichen konnte, und was wir noch verbessern können.
Wie aber wird die Einhaltung des Verhaltenskodex überprüft?
Und: Wie misst man, ob zukünftige Katastrophenanfälligkeit verringert wurde?
Dabei wurde schnell deutlich, dass Humanitäre Hilfe nicht einfach mit Entwicklungshilfe gleichgesetzt werden kann. Zwar steht die Entwicklungszusammenarbeit vor genau der gleichen Herausforderung, die Wirkungen ihres Tuns systematisch zu untersuchen, doch können die Methoden nicht 1: 1 auf die Humanitäre Hilfe übertragen werden. Im Gegenteil, erst die Differenzierung zwischen akuter Überlebenshilfe, Wiederaufbau und längerfristiger Entwicklungsarbeit und Katastrophenprävention vermeidet, Äpfel mit Birnen zu vergleichen.
Längerfristige Projekte wie die soziale Facharbeit für Menschen mit Behinderung oder Hilfen für benachteiligte Kinder starten mit der Analyse der Ausgangssituation. Welche finanziellen Mittel, welchen Organisationsgrad usw. die Zielgruppe vor dem Projektbeginn hatte. Auf dieser Basis kann gegen Projektende verglichen werden, was sich verändert hat und welchen Beitrag das Projekt zu diesen Veränderungen geleistet hat.
Prüfen - und Lernen
In Projekten der akuten Überlebenshilfe ist so ein aufwändiger Vorher-Nachher-Vergleich sachlich und ethisch nicht machbar. Hier drängt die Zeit, hier muss auf Basis einer Bedarfsanalyse schnell gehandelt werden. Wo immer möglich, werden die Wirkungen deshalb im Lauf des Projekts mit so genannten Echtzeit-Evaluierungen abgeschätzt, um mögliche zuvor unberücksichtigte Faktoren zu erkennen und umzusteuern. Außerdem werden Schlussevaluierungen eingesetzt, um im Rückblick zu prüfen, ob die gesetzten Standards eingehalten wurden und um Rückschlüsse für zukünftige Projekte zu ziehen.
Bei der Verteilung von Hilfsgütern.Caritas international
So ließ Caritas international von unabhängigen Gutachtern in einer Evaluierung im Kongo prüfen, ob die Empfänger von Nothilfen - zurückgekehrte, ehemals Vertriebene, die Saatgut usw. für einen Neuanfang zuhause erhielten - wirklich rein nach ihrer Bedürftigkeit ausgewählt wurden.
Die Gutachter befragten eingehend sowohl Empfänger der Hilfe selbst, als auch andere, die keine Hilfe bekommen konnten, sowie Vertreter verschiedener Konfessionen und andere Respektspersonen. Alle Befragten bestätigten, dass in keinem Fall die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession eine Rolle gespielt hatte, und alle nach demselben Kriterium, nämlich dem Grad der Bedürftigkeit ausgewählt wurden. Auch ergab die Evaluierung ungeplante, positive Wirkungen: während der Laufzeit des Projekts kamen Vertriebene aus anderen Landesteilen in der Projektregion an. Für sie stand keine Hilfe zur Verfügung, der Geldgeber hatte bereits alle verfügbaren Mittel für das Rückkehrer-Projekt bewilligt. Die Empfänger der Hilfe teilten deshalb von sich aus das Saatgut, das sie erhalten hatten, mit den Neuankömmlingen, um auch ihnen ein Auskommen zu ermöglichen.
Ebenso gründlich untersuchten die Gutachter, ob die Hilfe in irgendeiner Form kriegsverlängernd oder verschärfend gewirkt hatte, ob z.B. Hilfsgüter von bewaffneten Gruppen gestohlen und weiterverkauft worden waren. Das kann definitiv ausgeschlossen werden. Auch gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die erfolgte Hilfe zu einem "Abhängigkeitssyndrom" geführt und Eigenanstrengungen untergraben hätte. Dies ist eine leider häufig pauschal vorgebrachte Kritik an Humanitärer Hilfe. De facto nutzten die Rückkehrer die Starthilfe durch Caritas, um so schnell wie möglich wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Umgekehrt fand sich kein Hinweis dafür, dass das Projekt einen spürbaren Beitrag zu Frieden und Versöhnung in dieser von Gewaltkonflikten geschundenen Region hätte leisten können, was eine wünschenswerte indirekte Wirkung gewesen wäre. Hierfür war die Laufzeit zu kurz und der Umfang zu gering.
Betriebsblindheit vermeiden
Caritas international unterstützt derzeit auch eine Wirkungsevaluierung einer Partnerorganisation in Indien. Hier untersuchen Gutachter rückblickend ein Katastrophenvorsorgeprojekt, das der Nothilfe nach dem Tsunami 2004 folgte. Die zentrale Fragestellung lautet hier, ob die Vorsorge vor möglichen Katastrophen die gewünschte Wirkung erzielt und die arme Bevölkerung heute weniger verwundbar sind als damals, nach dem Tsunami.
Caritas international führt solche und ähnliche Wirkungsevaluierungen nach festen Kriterien stichprobenhaft durch. Nicht jedes Projekt soll und kann vertieft evaluiert werden. Die laufende Arbeit der Partner speist sich aus jahrzehntelangem Erfahrungswissen. Durch die enge, laufende Begleitung - Caritas-Mitarbeiter reisen häufig und regelmäßig in die Projektgebiete - werden Schwierigkeiten in der laufenden Umsetzung erkannt und im Dialog gelöst. Aber von Zeit zu Zeit hilft der Blick eines Experten oder einer Expertin von außen, mögliche "Betriebsblindheit" zu überwinden.
Wichtig bleibt, die Einhaltung der humanitären Prinzipien und Arbeitsstandards im jeweiligen Kontext zu überprüfen. Wenn die Wasserversorgung in einem Flüchtlingslager unzureichend ist, aber den Standard der umliegenden lokalen Bevölkerung bereits übersteigt, muss eine Güterabwägung getroffen werden. Eine weitere Verbesserung wäre natürlich wünschenswert und würde mehr Krankheiten unter den Flüchtlingen vermeiden. Aber die Gefahr ist groß, dass sich durch eine einseitige "Privilegierung" auch Spannungen mit der einheimischen Bevölkerung verschärfen, die weniger konzentriert siedelt und für die eine vergleichbare Wasserversorgung ungleich teurer wäre. Hier gibt es keine Patentlösung, und die gesetzten Qualitätsstandards bieten nur eine Hilfestellung, um seriös abzuwägen. Und ebenso wichtig bleibt es, bei aller Verfeinerung von Planungsmethoden und Wirkungsbeobachtung das Unplanbare zu akzeptieren, das jedem sozialen Wandlungsprozess innewohnt und insbesondere in akuten, chaotischen Notsituationen die Begrenztheiten der Hilfe anzuerkennen.
Oktober 2014
Volker Gerdesmeier