Neue Wurzeln: Ein Friedhof wird zum neuen Zuhause
„Einige ältere Menschen aus unserem Dorf konnten nicht fliehen. Sie sind zu Hause gestorben, weil sich niemand um sie kümmern konnte“, berichtet die 43-jährige Lu San, die ursprünglich aus dem Kachin-Staat im Norden Myanmars kommt. Sie steht vor ihrer kleinen Hütte in einem Lager für Vertriebene in Myitkyina. Seit mehr als acht Jahren ist das ihr neues Zuhause. Im Juni 2011 mussten sie und ihre Familie gemeinsam mit den anderen Dorfbewohnern vor den Kämpfen zwischen der Armee von Myanmar und der Unabhängigkeitsarmee von Kachin fliehen. Eine Rückkehr ins Heimatdorf ist für Lu San und ihre Familie unmöglich – sie bleiben Vertriebene im eigenen Land.
Lu San vor ihrer Hütte in Myitkyina.Caritas international/Philipp Spalek
Ein Friedhof wird zum neuen Zuhause
Die Regierungstruppen fielen ohne Vorwarnung in Lu Sans Dorf von ein. Sie vermuteten dort Kollaborateure der Kachin-Rebellen. „Als die Truppen kamen, mussten wir sofort unser Haus verlassen und um unser Leben rennen“, berichtet Lu San. „Sie benutzten Artillerie und Gewehre. Es blieb keine Zeit, um irgendetwas mitzunehmen – nicht einmal Essen für unsere Kinder.“
Abwechslung zum Leben im Camp findet Lu San beim Singen im Chor mit anderen Bewohnerinnen und Bewohnern.Caritas international/Philipp Spalek
Mit ihren fünf Kindern, heute alle zwischen elf und 18 Jahre alt, flohen Lu San und ihr Mann vor knapp neun Jahren durch den Dschungel. Die Straßen waren wegen der Kämpfe unpassierbar. Die Mutter erinnert sich noch an die Schreie ihrer Kinder während der beschwerlichen Flucht. Mehrere Tage waren sie unterwegs, bis sie das Camp erreichten, in dem sie heute leben. „Als wir hier ankamen, war hier nichts. Die Kirche erlaubte uns, Hütten zu bauen und hier zu bleiben. Doch dass es für so lange sein würde, haben sie nicht erwartet.“ Das Land, auf dem heute die Hütten der vertriebenen Menschen stehen, war früher ein Friedhof. Ein Ort des Vergangenen ist für Lu San und einem Großteil ihrer Familie zu einem Ort des Neubeginns geworden. Doch nicht für alle: 2017 starb der Ehemann und Vater der Kinder plötzlich an einer Krankheit.
Neue Wurzeln schlagen: Vertikale Gärten ermöglichen Selbstversorgung
Vor dem Krieg führte Lu San ein Lebensmittelgeschäft und baute Gemüse an. „Zu Hause hatten wir unser Haus und Ackerland“, sagt sie. „Ich vermisse das alles sehr und will mir gar nicht vorstellen, wie meine Felder nach acht Jahren ohne Bewirtschaftung aussehen! Wir mussten damals so überstürzt fliehen, dass wir nichts mitnehmen konnten. Jetzt ist unser ganzer Besitz wahrscheinlich geplündert oder zerstört.“
Lu San (rechts im Bild) in den angelegten Gärten vor ihrer Hütte.Foto: Caritas international
Heute kann Lu San ihre Familie wieder mit selbst angebautem Gemüse versorgen. Dafür nutzt sie einen vertikalen Garten – mit Erde gefüllte und aufeinander gestapelte Holzkisten. Darin lässt sie unter anderem Bohnen-, Spinat- und Koriandersamen sprießen und sorgt dafür, dass die jungen Pflanzen Wurzeln schlagen. Know-how, Saatgut und notwendiges Werkzeug dafür steuern Caritas international und die Partnerorganisation The Bridge (Die Brücke) bei. „Außerdem bauen wir Brunnenkresse, Tomaten und Chili an. Ich pflanze immer etwas anderes nach, wenn ich geerntet habe“, erzählt Lu San. Auf diese Weise baut sie sich und ihrer Familie Schritt für Schritt wieder ein selbstständiges Leben auf.