Syrien: Der endlose Krieg
Kindheit in Trümmern
Anas ist elf Jahre alt, nur wenig älter als der Krieg in seinem Heimatland Syrien. Anas hat Dinge erlebt, die kein Kind erleben sollte. Er war dabei, als Bomben vom Himmel fielen und Gebäude einstürzten. Er sah blutende und zerfetzte Körper und Menschen, die hingerichtet wurden. Bilder, die sich in seine Seele eingebrannt haben und ihn vielleicht nie wieder ganz loslassen werden. Die gute Nachricht ist: Anas hat eine Mutter, die ihn über alles auf der Welt liebt. Und er hat Mirna Tahhan an seiner Seite, eine Sozialarbeiterin der Caritas, die alles daransetzt, dass Anas‘ Leben wieder in gute Bahnen kommt.
Auf der Flucht
Für Anas beginnt der Krieg als 2012 die ersten Bomben auf seine Geburtsstadt Aleppo fallen. Seine Familie flüchtet sich nach Rakka im Norden Syriens, wo sie bei Bekannten Unterschlupf findet. Was sich zunächst sicher anfühlt, wird zwei Jahre später zum Albtraum: Im August 2013 überfällt der Islamische Staat (IS) die Stadt und macht sie zur Schaltzentrale ihrer Macht. "Ich habe in diesen Jahren den blanken Horror erlebt", erinnert sich Maha Mahmoud, Anas Mutter. Zu den Schrecken dieser Zeit gehört auch, dass sich ihr Mann dem IS anschließt. 2015 beschließt die junge Frau zu fliehen. Mit dem damals fünfjährigen Anas will sie weg aus Rakka, wo Hinrichtungen und Terror zum traurigen Alltag geworden sind. Doch der Plan misslingt: Maha Mahmoud muss die Stadt verlassen, Anas behält der Vater bei sich. Mutter und Sohn sind zum ersten Mal getrennt in ihrem Leben. Maha Mahmoud bleibt nichts anderes übrig als auf Anas zu warten. Zu hoffen, dass er überlebt.
Anas mit seiner Mutter Maha Mahmoud (links). Als der "Islamische Staat" in Rakka einfiel, wurden Mutter und Sohn zum ersten Mal getrennt. Mittlerweile sind die beiden wieder vereint, doch es dauerte lange, bis Anas sich wieder sicher fühlte. Mirna Tahhan (rechts), Sozialarbeiterin der Caritas, hilft ihm dabei.Foto: Carlos Rayess / Caritas Syrien
Geschundene Seele
Erst als gegnerische Truppen Rakka zurückerobern, kann Maha Mahmoud ihren Sohn wieder in die Arme schließen. Doch in die unermessliche Wiedersehensfreude mischt sich rasch Sorge. "Ich war geschockt", erzählt die heute 36-Jährige unter Tränen. "Es war, als sei Anas noch mitten im Krieg. Er spielte meistens allein, war viel für sich. Wann immer die Sozialarbeiterin der Caritas oder jemand anderes zu Besuch kam, rannte er weg und versteckte sich."
Immer wieder stellt Anas Szenen nach, die er in Rakka gesehen hatte. "Ich habe ihn einmal beobachtet, wie er mit dem Sohn unseres Nachbarn gespielt hat. Anas hat ihn auf die Knie gezwungen, ihm die Spielzeugpistole an den Kopf gesetzt und gesagt: ‚Ich werde dich hinrichten‘. Ich habe so oft versucht, mit ihm zu reden, auf ihn einzuwirken. Aber vergeblich, ich bin seine Mutter, keine Psychologin", erklärt Mahmoud.
"Im zehnten Jahr des Krieges haben die Menschen keine Ressourcen mehr. Sie sind auf Hilfe angewiesen." - Angela Gärtner, Syrien-Referentin von Caritas international.
Und Anas‘ seelische Verletzungen sind nicht die einzige Sorge von Maha Mahmoud. Syrien steht vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Die Preise für Lebensmittel steigen in schwindelerregende Höhen. Der 36-Jährigen fehlt das Geld, um sich und ihren Sohn durchzubringen. Sie muss sich um eine Arbeit kümmern - und gleichzeitig um den kleinen Anas.
Ein sicherer Rahmen
Dass das Überleben überhaupt funktioniert, hat viel mit der Caritas zu tun. Und mit Mirna Tahhan, die für sie als Sozialarbeiterin tätig ist. Die Caritas ist einer der wenigen Hilfsorganisationen, die überhaupt in Ost-Aleppo arbeiten dürfen. "Derzeit verteilen wir Lebensmittel- und Hygienepakete, Kleidung, Decken und Teppiche", erklärt die 26-Jährige. Dass die Versorgung mit dem Lebensnotwendigen im Großen und Ganzen gesichert ist, soll den Druck aus den Familien nehmen und Zeit schaffen, sich umeinander zu kümmern. Denn stabile Bezugspersonen, die Sicherheit und Zuversicht vermitteln, sind besonders wichtig für Kriegskinder. Maha Mahmoud verschaffen die Lebensmittel Zeit, eine Fortbildung zur Schneiderin zu machen. Ein Beruf, der sie und Anas in Zukunft ernähren soll.
Auch die Schule ist ein Ort, der Ruhe und Stabilität in das Leben der kleinen Familie bringt, obwohl Anas das Lernen alles andere als leichtfällt. "Ich wünsche mir, dass ich mich während der Prüfung an meine Lektionen erinnere. Obwohl ich hart lerne, vergesse ich immer die Antworten", erzählt der Elfjährige. Wie so viele Kriegskinder hat er in den vergangenen Jahren die Schule nur unregelmäßig besucht. Damit er Anschluss an seine Klassenstufe findet, besucht Anas nach dem Unterricht die Hausaufgabenhilfe der Caritas.
Anas in der Gruppentherapie der Caritas. Die Handpuppen sind eine Hilfe, um über das Erlebte sprechen zu können und neue Perspektiven zu eröffnen.Foto: Carlos Rayess / Caritas Syrien
Hier nimmt er auch regelmäßig an Gruppentherapiesitzungen teil. Mira Tahhan nutzt dazu selbst gebastelte Handpuppen als behutsame Türöffner zu den Gedanken und Gefühlen der Kinder. Vielen fällt es mit den Puppen leichter über Probleme oder quälende Erinnerungen zu reden. Während die rote Handpuppe auch schlimmste Gedanken frei äußern darf, versucht die grüne im Dialog neue Perspektiven zu eröffnen und Unterstützung zu organisieren. „Anas hat sich zum Guten verändert, seit er an den Gruppensitzungen teilnimmt, das hat auch viel Druck von mir genommen. In der Schule ist er besser geworden und er begrüßt mittlerweile jeden, der kommt, seine Angst und Schüchternheit sind verflogen“, freut sich seine Mutter. Auch Anas fühlt sich wohler. „Ich habe mich verändert, ich weiß jetzt viele Dinge und ich kann zwischen guten und schlechten Gedanken in meinem Kopf unterscheiden", erklärt er. Inzwischen hat er auch einen Freund im Caritas-Zentrum gefunden. Ein wichtiger Schritt, der Maha Mahmoud Hoffnung macht.
Spezialisierte Hilfe notwendig
Diese kleinen Erfolge dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, welches Leid der Krieg in Syrien den Kindern zugefügt hat und dies weiter tut. Jeder Bombenangriff, jede Verletzung, jede Trennung von einem geliebten Menschen, jede Flucht kann schwerwiegende Folgen für die psychische Gesundheit der Kinder haben. Die erlebte Angst und Ohnmacht können zu enormem Stress führen, der wiederum die Entwicklung des Gehirns, des Verhaltens und des allgemeinen Wohlbefindens beeinflusst.
Rund fünf Millionen Kinder unter zehn Jahren leben derzeit in Syrien. Viele verletzen sich selbst, sind aggressiv und zutiefst traurig, in sich gekehrt, nässen sich ein, können weder schlafen noch sich konzentrieren.
Kinderzeichnungen spiegeln die Grauen des Krieges wider und die seelischen
Verletzungen, die die Kinder erlitten haben. Unzählige haben im Krieg geliebte
Menschen verloren, wurden Zeugen von Gewalt oder mussten fliehen.
Was dringend fehlt, sind auf Traumabewältigung spezialisierte Psycholog*innen. "Wenn Kinder über den schrecklichen Verlust ihrer Lieben im Krieg sprechen, fühlen wir uns hilflos. Dieser Zustand erfordert Psychotherapeuten, und das sind wir nicht", betont Mirna Tahhan. Aber solche Fachleute gibt es kaum im Land, viele sind geflohen, genauso wie Ärzte und Pflegekräfte. Deshalb werden Mirna Tahhan und ihr Team weiterhin die Stellung halten, obwohl sie selbst vom Krieg betroffen sind. "Während der Arbeit schiebe ich meine privaten Sorgen beiseite, damit ich voll und ganz bei den Kindern sein kann", erklärt sie. Es wird eine langwierige Aufgabe der Nachkriegszeit werden, die Leiden der Kinder ganz zu heilen.
Eine Reportage von Stefanie Santo, März 2021