„Die meisten Unfälle passieren bei der Feldarbeit“
Die beiden Freunde wurden auf ihrem Weg nach Hause gemeinsam von einer Mine getroffen. Christian Melo verlor sein Augenlicht, Francisco Bolivar ein Bein. Foto: Jürgen Escher
Die Gemeinde Samaniego liegt im Distrikt Nariño. Diese Region ist vom bewaffneten Konflikt schwer betroffen und hatte in den zurückliegenden Jahren die meisten Landminenopfer zu beklagen.
"Die meisten Unfälle passieren bei der Feldarbeit", sagt Rosa Palacios, die seit 20 Jahren bei der Caritas in Pasto arbeitet und inzwischen über 116 Familien von Minenopfern betreut hat. Sowohl verschiedene Guerilla-Gruppen als auch das Militär setzen Landminen als strategisches Instrument der Kriegsführung ein. Inzwischen haben aber auch andere kriminelle Drogenbanden das System übernommen und schützen zum Beispiel ihre illegalen Kokafelder mit Minen.
Mit dem Unfall fällt häufig auch das Familieneinkommen weg und die ganze Familie gerät nicht nur psychisch, sondern auch ökonomisch in eine Schieflage. Die Caritashilfe schließt deshalb nicht nur die Betreuung der Opfer ein - von der akuten medizinischen Notversorgung bis zur späteren Beschaffung von Prothesen oder Rollstühlen -, sondern kümmert sich von Anfang an auch um die Angehörigen. "Das ist sehr wichtig", sagt der Psychologe der Caritas Pasto, John Ramirez, "die Familie leidet nämlich mit."
Die beiden Caritasmitarbeiter Rosa Palacios und John Ramirez besuchen die heute Achtjährige Melissa Espinoza. Das Mädchen war auf dem Rücken ihrer Mutter, als die auf eine Mine trat. Beide überlebten, leiden aber bis heute unter schweren Schmerzen. Foto: Jürgen Escher
Verlässlichkeit ist wichtig
Die Caritasmitarbeitenden betreuen die Minenopfer teilweise über Jahre. Sie unterstützen den behindertengerechten Umbau der Wohnung und beraten gemeinsam, wie trotz erheblicher körperlicher Einschränkungen künftig ein Einkommen erzielt werden könnte.
Neben den äußeren Verletzungen haben alle Minenopfer vor allem aber auch mit schweren Traumata zu kämpfen, sagt Rosa Palacios. Deshalb organisiert sie gemeinsam mit ihrem Kollegen regelmäßige Wochenenden, an denen sich Minenopfer aus der Region treffen und austauschen können. "Für die Betroffenen ist es wahnsinnig motivierend zu erleben, wie andere es auch geschafft haben, vorwärts zu gehen", sagt Rosa Palacios.
Christian Melo ist einer von denen, die vorwärts blicken. Als der heute 19-Jährige vor vier Jahren auf eine Mine trat und dabei sein Augenlicht verlor, hatte er anschließend mit schweren Depressionen zu kämpfen. Er lebt, wie alle hier, in den Bergen. Kurz vor dem Unfall hatte er mit der Schule aufgehört, um in der Landwirtschaft zu arbeiten. Wie sollte er künftig sein Geld verdienen? Er sah in allem keinen Sinn mehr.
Austausch schafft Verbindung
Bei den Treffen lernte er andere Minenopfer kennen, die ähnlich Furchtbares erlebt hatten und ihm zeigten, dass man nicht aufgeben darf. Die Caritasmitarbeitenden organisierten Hilfe und fanden eine Möglichkeit, dass Christian in Bogotá die Blindenschrift erlernen konnte. Anschließend holte er in Samaniego seinen Schulabschluss nach: als Bester der ganzen Schule. Ab kommendem Semester hat er ein Stipendium, um in Pasto Sozialarbeit zu studieren. Er möchte die Motivation und Hilfe, die er erlebt hat, an andere weitergeben.
Nicht jeder Fall entwickelt sich zu einer derartigen Erfolgsgeschichte. Vor allem, wenn Kinder betroffen sind, sagt John Ramirez, ist die Arbeit doch immer wieder sehr belastend. "Es gab Tage, da kam ich aus dem Krankenhaus weinend ins Büro zurück."
In ihrem Alltag sind es die kleinen Schritte, die erreicht werden, die zählen. Ein Antrag auf Rentenzahlung, der nach mehrmaliger Ablehnung endlich durchgegangen ist. Eine eingeschüchterte Frau, die nach drei Monaten endlich die Tür aufmacht, um sich helfen zu lassen. Um die Minenopfer zu besuchen, müssen die Caritasmitarbeiter oft weite und nicht ganz ungefährliche Wege auf sich nehmen. Manchmal müssen sie bei den Opfern übernachten, weil die An- und Rückreise an einem Tag gar nicht machbar sind. Einmal sind die Caritas Mitarbeiter/innen dabei in eine Schießerei geraten.
"Zwei Gruppen von Paramilitärs haben über unsere Köpfe hinweggeschossen", erzählt John Ramirez. "In diesem Moment habe ich mich schon gefragt, was ich hier eigentlich mache." Aber sofort fügt er an, dass er das im Grunde schon sehr genau weiß. "Wir fahren auf die Dörfer, wir fahren immer wieder zu den Minenopfern hin. Das ist das, was die Caritas hier machen kann, weil die Menschen uns vertrauen. Das kann hier sonst niemand."
Andrea Edler, März 2016