Afghanistan: Das Überleben sichern
Stefan Recker zurück in Kabul: "Das größte Problem ist das fehlende Geld"
Caritas international: Herr Recker, Sie waren rund vier Monate in Deutschland und sind dann wieder nach Kabul zurückgekehrt. Wie hat sich die Stadt in dieser Zeit verändert?
Stefan Recker: Es war auf eine seltsame Weise ähnlich und doch anders. Das Verkehrschaos, die trubeligen Straßen, die Lautstärke - das alles war mir sehr vertraut. Aber viel größer und sichtbarer geworden war die Armut. Man sieht immer mehr Menschen hungern. In den Geschäften gibt es weniger Waren und die meisten Afghanen besitzen ohnehin nicht das nötige Bargeld, um sie zu kaufen.
Woran liegt das?
Seit die Taliban im August letzten Jahres an die Macht kamen, ist ein geregelter Geldtransfer nach Afghanistan nur schwer möglich. Das liegt einerseits an den Sanktionen gegen die Taliban, andererseits auch an Gesetzen, die gegen Terrorfinanzierung bestehen. Immerhin konnten mittlerweile Ausnahmeregelungen für Hilfsorganisationen geschaffen werden. Die Hilfsgelder der internationalen Gemeinschaft von denen Afghanistan in der Vergangenheit sehr stark abhing, wurden fast vollständig eingestellt, die afghanische Zentralbank und auch die Privatbanken sind quasi handlungsunfähig.
Was sind die Folgen?
Die Menschen können kein Geld mehr abheben, Arbeitgeber können ihre Angestellten nicht mehr bezahlen. Kurz nach meiner Ankunft wurde ich am Flughafen von Dutzenden Männern bedrängt, die gegen ein Entgelt mein Gepäck tragen wollten. Darunter waren selbst Taliban. Das fand ich sehr, sehr bedrückend. Der wirtschaftliche Druck auf die Menschen und die Tatsache, dass es keine Polizei mehr gibt, sind die Gründe, warum sich auch die Sicherheitslage immer weiter verschlechtert. Diebstahl, Raub und Entführungen sind an der Tagesordnung.
Weil die meisten Banken in Afghanistan über keine Liquidität verfügen und Gehälter deshalb nicht gezahlt werden können, können sich die Menschen keine Lebensmittel mehr leisten. Allein ein Stück Pitabrot von der Bäckerei ist für viele unerschwinglich geworden. Foto: Petros Giannakouris/ AP
Auch Caritas international muss in Afghanistan Geld bewegen können, um Hilfe zu leisten …
Das stimmt. Es ist momentan nicht einfach, Hilfsgüter zu beschaffen und die Gehälter für die Mitarbeitenden unserer Partnerorganisationen auszuzahlen. Wir behelfen uns mit informellen Bargeldtransfers und immer wieder gelingt uns das auch. So konnten wir in den vergangenen Wochen Bargeld an notleidende Familien im afghanischen Hochland verteilen, womit sie selbst auf den lokalen Märkten einkaufen gehen konnten. In den Provinzen Kunduz und Baghlan, im Hochland von Daikundi sowie in Kabul geben wir derzeit Lebensmittel, warme Kleidung, Decken und Heizmaterial aus. Und eine unserer Partnerorganisationen im Norden Afghanistans stellt weiterhin Orthesen und Prothesen für Menschen mit Behinderung her. Dort haben wir noch so viel Materialien auf Lager, dass das Team weiterarbeiten kann - auch, weil die Mitarbeitenden vorerst auf die Auszahlung ihrer Gehälter verzichten.
Warum wird auch Bargeld verteilt?
Es ist oft einfacher, Geld zu verteilen: Es muss nicht eingekauft, gelagert, sortiert und transportiert werden. Außerdem können sich die Menschen passgenau das beschaffen, was sie am dringendsten brauchen.
Man hört in den Medien viel zur Lage in Kabul, aber wie sieht es in den ländlichen Regionen aus?Viele Menschen dort leben von der Landwirtschaft, haben in der Regel Reserven oder können sich Lebensmittel von ihren Nachbarn leihen. In der Stadt ist alles nur gegen Bargeld zu haben und das fehlt eben gerade. Ein riesiges Problem in ländlichen Regionen ist allerdings die medizinische Versorgung. Das öffentliche Gesundheitssystem in Afghanistan war in den vergangenen Jahren ein Projekt der Weltbank. Sie hat die Ärzt_innen und Pflegekräfte bezahlt und die Versorgung mit Medikamenten und medizinischen Gerätschaften sichergestellt. Das alles ist jetzt zusammengebrochen. Weil die Menschen kein Geld haben, können sie nicht einmal zu Privatärzten gehen. Die Folgen sehen wir in unseren Lepra- und Tuberkulosekliniken im Hochland, wo wir auch Allgemein- und Notfallmedizin anbieten: Sie werden von Patienten überrannt.
In den Medien wurde viel über Ortskräfte berichtet, die Afghanistan nach Machtergreifung durch die Taliban verlassen wollten. Wie sieht es mit den Caritas-Mitarbeitenden aus?
Wir haben für alle 27 Mitarbeitenden mit ihren Kernfamilien die Möglichkeit geschaffen, auszureisen. Drei Personen haben sich dagegen entschieden, alle anderen sind bereits in Deutschland oder auf einer Zwischenstation in Pakistan. Insbesondere die jüngeren Frauen hatten große Angst zwangsverheiratet zu werden. Auf ihrem Arbeitsweg waren sie immer in größter Sorge, in eine Taliban-Patrouille hineinzugeraten, beschimpft oder verprügelt zu werden.
Das heißt, Sie sind nun auf der Suche nach neuen Mitarbeitenden im Kabuler Büro?
Ja, ich stelle gerade wie ein Weltmeister neue Leute ein, darunter sind auch zwei Frauen. Das scheint unter den Taliban grundsätzlich möglich zu sein, auch wenn es keinerlei schriftliche Verlautbarungen gibt und man ein Stück weit der Willkür der jeweiligen Taliban-Patrouille ausgesetzt ist. Das macht die Situation sehr anstrengend und unsicher. Wir werden deshalb vorsorglich Frauen und Männer im Büro räumlich trennen, um von vornherein alles zu tun, um die Lage zu deeskalieren.
Auch wenn das nach einem Rückschritt klingt, gibt es dennoch etwas, was Ihnen Hoffnung macht?
Ja, in der Tat. Als die Taliban Kabul erobert haben, hätte man durchaus von umfassenden und geplanten Vergeltungsaktionen der Taliban mit zehntausenden Toten ausgehen können. Das ist so bislang nicht geschehen. Und das gibt mir Grund zu hoffen, dass dieses Land doch irgendwann mal zur Ruhe kommt und so etwas wie eine gemeinsame Identität entwickelt.
Das Interview erschien erstmals im Magazin überleben (Ausgabe 01/2022) von Caritas international